Montag, 11. Dezember: Panikraum

Sollen sie uns doch rausschmeißen! Was für einen Unterschied würde es machen? Wir sitzen in einem verdammten Keller und niemand will uns unterrichten.

Sina sitzt im grellen Licht der Schwarzen Klasse, Betül neben ihr starrt vor sich hin und streichelt alle paar Minuten Sinas Ellenbogen. Was für ein Abend, was für eine Nacht!

Eigentlich ist die erste Stunde am Montag kein schlechter Wochenstart. Es ist das erste Mal, dass Sina sie erlebt. In der letzten Woche war sie mit Betül draußen im Wald spazieren, Betül hatte ihr die Regeln von Krahenstein erklärt und war vor Sinas Augen ein Stück über dem Boden geschwebt. 

Die ersten Stunde montags haben sie Spezialgeschichte. Es ist das einzige Fach, in dem sie über die Sache sprechen. Nicht über ihre eigene Sache, sondern allgemein. Die Geschichte ihrer Leute. Der Family. Was sie im Laufe der Jahrhunderte bewirkt haben und vor allem, was die erdulden mussten. Laut Annika ist das Fach nicht so interessant, wie es sich anhört – ja, tatsächlich! Für Annika hören sich Schulfächer interessant an… Das Muster der Begebenheiten ist – Spoiler alert – immer gleich: Person macht weirde Dinge, Person fliegt auf, Person wird angeklagt, Person wird gefoltert und am Ende ist sie tot. Mal schneller, mal langsamer. Manchmal, wenn man Glück hat, werden zwischendrin noch ein paar Aliens umgenietet, das ist der fun part.

Niederlage gilt als absoluter Experte für das Fach und wahrscheinlich ist Spezialgeschichte der einzige Grund, warum er überhaupt noch an der Schule ist. 

Schnell wird klar, dass in der heutigen Stunde andere Themen besprochen werden. Niederlage will den gestern ausgefallenen Beffaná-Abend nachholen. Nach der Ansage von Döpfner, dass die Schule erpresst wird, gab es noch viele, gewisperte Unterhaltungen im Schlaftrakt der Schwarzen Klasse. Charlie, eine*r von den Mitschüler*innen, die Sina wegen seiner unangenehmen Art und seinen seltsamen Gefühlssignalen bisher gemieden hat, vertrat die Ansicht, dass der oder die Erpresser*in vielleicht doch aus ihren eigenen Reihen kommt. Doch schnell wurde Charlie von Roswitha zum Schweigen gebracht, Charlie wurde professionell, fest und relativ schmerzlos an der Heizung festgebunden und mit einem Flauschknebel ruhig gestellt. 

Eigentlich nett von Niederlage, denkt Sina, dass er den Beffaná-Abend nachholen will. Andererseits: Was verbindet ihn mit Beffaná (bzw. mit der rothaarigen Frau, die sich als Beffaná ausgibt)? Für Sina ist es offensichtlich, dass Niederlage eben diese Frau am Samstagabend oben auf dem Parkhaus getroffen hat. Nicht nur das! Dass er zusammen mit ihr zurück zur Schule geflogen ist. Selbst wenn sie nicht DIE Beffaná ist: Sie beherrscht das Fliegen. Und Odette hat es gespürt: Sie verfügt über mächtige Zauberkräfte. Außerdem spielt sie ein doppeltes Spiel. Warum sagt sie Sina, sie sei auf Krahenstein, um Niederlage heimlich zu kontrollieren? Und dann trifft sie sich mit ihm am Wochenende in der Stadt? Das ergibt keinen Sinn.

Statt hinter die Mysterien von Krahenstein zum kommen, hält Sina jeden Tag neue lose Enden eines riesigen Netzes in der Hand. Bisher ist Betül die einzige, deren Geschichte wirklich plausibel ist. Selbst Annika… Sina weiß so gut wie gar nichts über sie. Und heute morgen kam das nächste Rätsel dazu.

Es fing damit an, dass Sinas Handy-Akku mitten in der Nacht den Geist aufgab. Als sie heute Morgen um sieben von Betül geweckt wurde, lag sie um Kess’ Rollwagen gewickelt mit der Hand um Kess’ Kopf gelegt. Sina war unverletzt, aber ihr linker Arm sah schlimm aus: Drei neue Läsionen (so hätte Sinas Mutter es genannt), also kleine Löcher, klafften an ihrem Oberarm. 

Aber das war nicht das Rätsel. Das Rätsel lag in ihrem Bett. In allen ihren Betten. Jede hatte ein Geschenk bekommen. Von wem auch immer. Sina vermutet, dass es der Beffaná-Wichtel war, der in der zusätzlichen Nacht noch einmal richtig zugeschlagen hatte. Doch mit der Wichtel-Expertin Annika konnte und kann sie nicht darüber reden. In Annikas Bett lag ein kleiner, silberner Schulzirkel. Annika redete nicht, sie hatte den Kopf auf ihren Knien und weinte, bis sie zum Unterricht mussten. Betül und Sina schoben Kess alleine in die Klasse, Annika trottete wie ein Häufchen Elend hinterher. Auch jetzt sitzt sie auf ihrem Platz und hat das Gesicht unter ihren Händen verborgen.

Betül hat einen kleinen, silbernen Hammer bekommen und war heute morgen die einzige, die guter Dinge war:

„Gutes Geschenk“, sagte sie. „Aber ganz schön teuer. Ich hoffe der Wichtel hat sich an die Regeln gehalten und nix Neues gekauft!“

Auch auf Sinas Bett hatte etwas gelegen. Etwas Überraschendes. Auf ihrem Bett lag eine Brille. Es war eine schöne Brille. Und sie hatte genau die richtige Stärke. Sie war sogar besser eingestellt, als ihre alte Brille, die Sina seit ihrem Einzug in Krahenstein nie aus dem Koffer geholt hat. Das ist das Problem: Wie kann der Wichtel wissen, dass sie eine Brille braucht und ihr auch noch eine genau passende schenken? 

What are the odds

Das ist kein Zufall!

Niederlage hat ein Adventsgesteck mitgebracht und eine Kerze angezündet. 

„W-wer möchte anfangen!“, ruft er und strahlt in die Runde.

„Wollen wir nicht erst über gestern Abend reden?)“ sagt Roswitha und viele andere klopfen zustimmend auf ihre Tische. Doch dieses Mal bleibt Niederlage überraschend standhaft:

„I-ch denke n-nicht, dass wir g-gerade etwas tun k-können. Lasst uns erst mal was Schönes m-machen, b-bitte. Wer m-möchte anfangen?“

Hannes meldet sich. Er ist einer der älteren. Ihm wächst bereits ein wirklicher Bart. Viel mehr sogar, als man bei einem Jungen seines Alters erwarten würde. Sina schätz ihn auf vielleicht 17 oder 18. Er wirft ein Paar weiche Lederhandschuhe auf den Tisch und streckt zustimmend einen Daumen in die Höhe:

„Lag erst heute in meinem Bett. Hat wohl einen Endspurt eingelegt, unsere Beffaná. Danke, Wichtel! Passt vielleicht zu meinem doom. Keine Sorge, keine Details, Aber spitzen Geschenk. Ich nominiere Ovid, würde zu ihm passen.“ 

Er knufft Ovid, der neben ihm sitzt in die Seite. Doch Ovid schaut strikt geradeaus. 

„Was ist denn sein doom?“, flüstert Sina Betül zu. „Komm schon, nur die Grundzüge! Alle in der Klasse wissen’s doch sowieso, oder?!“

„Nicht hundertpro sicher“, flüstert Betül. „Aber Niederlage tippt auf sowas wie Pläneschmied, obwohl das eigentlich kein echtes doom ist, sondern eher ein weirder  Beruf. Oder Sturmgespenst.“

„Kenn ich alles nicht!“ zischt Sina.

„Is jetzt auch egal, Sina! Pläneschmied: Denkt sich coole Maschinen aus und hat ein Styling wie ein zu groß geratener Zwerg. Sturmgespenst: Keine Ahnung: Rüttelt an Fenstern.“

„Das ist doch kein doom!“

„Herrgott, ich weiß es auch nicht genau! Ist vielleicht wie Hühneraugen. Nix besonderes, aber die Leute verfluchens trotzdem und los werden sie’s auch nicht.“

„A-alles klar bei Euch?“ Niederlage schaut in ihre Richtung. Betül winkt ab:

„Einfach weitermachen. Wir sind schon ganz gespannt. Gab’s noch mehr Geschenke?“

Tatsächlich gab es die. Jede Menge sogar. Und ausnahmslos alle erst in der letzten Nacht. Ana hat eine Dose Spezialhautkleber bekommen. Emil einen Staubwedel, Odette ein Gaming-Keyboard mit RGB-Lichteffekten und Becca zwei Schachteln Lucky Strikes.

Darüber, wer die Beffaná ist, ist man sich dagegen überhaupt nicht einig. Jede hat jemand anderes in Verdacht und Niederlage beschäftigt noch eine weitere Sache:

„L-leute, wir hatten m-mal die R-regeln aufgestellt, d-das nichts gekauft wird! B-bei Z-zigaretten-sch-schacheln und C-Computer-t-tastaturen fehlt mir die F-fantsie, w-wo das h-herkommen soll, w-wen nicht aus einem- G-geschäft!“

„Außer“, murmelt Ovid, „unsere Beffaná kann hexen.“

„Aber keiner von uns ist eine Hexe“, ruft Rico. „Außer vielleicht Sina und Annika, bei denen wissen wir noch nichts. Die waren noch nie im Meeting dran.“

Alle Augen richten sich wechselseitig auf Annika und Sina. Sina spürt, wie alle in der Klasse aufgeregt, fast fieberhaft überlegen.

„Sina hatte Sonntag diese Messersache“, ruft Emil. „Sie ist keine Hexe!“

Erwartet er jetzt ein Küsschen aus Dankbarkeit, dass er sie verteidigt hat? Sina dreht sich weg.

Niederlage fuchtelt mit den Armen:

„L-Leute! W-was ist l-los mit euch! N-normalzeit! Reißt euch zusammen!“ 

Doch Rico zeigt schon auf Annika: 

„Ich nominiere Annika! Annika ist unsere Weihnachtshexe!“

Auch Charlie und Chris fallen mit ein:

„Wir nominieren Annika! Annika ist eine Hexe!“

Sina schaut rüber zu ihrer Zimmernachbarin, die immer kleiner wird auf ihrem Stuhl und schließlich ihr Gesicht vollständig zwischen ihren angezogenen Knien verborgen hat. Zugleich ist Sina gerade etwas eingefallen, was ihr die Kehle zuschnürt. Sie muss hier raus. Und zwar schnell.

„Haltet einfach alle die Klappe!“, ruft sie, springt auf und geht zu Annika.

„Komm, ich weiß wohin wir gehen“, flüstert sie ihr zu und hilft ihr auf die Beine. 

„S-sina, was ist denn da l-los? Ihr k-könnt nicht e-einfach k-kommen und g-gehen, wann ihr w-wollt.“

Diese scheiß Regeln!

Genug ist genug. Sina ranzt ihren Lehrer an:

„Mach verdammt noch mal deinen Job und krieg deine Klasse in den Griff, NIEDERLAGE!“

Ohne ein weiteres Wort, zieht sie Annika aus der Klasse und lässt die schwarze Tür hinter sich zufallen.

Der Panikraum ist leer und überraschend warm. Sina lässt Annika an der Wand neben der Tür zu Boden gleiten, setzt sich dicht neben sie und nimmt sie in den Arm.

„Da bekommt der Begriff Hexenjagd eine ganz neue Bedeutung, findest du nicht?“

Annika reagiert nicht, hält weiterhin ihr Gesicht bedeckt und schluchzt vor sich hin.

„Willst du darüber reden?“

Annika schüttelt den Kopf.

„Auch gut. Erträgst du es, mir zuzuhören?“

Annika zuckt mit den Achseln.

„Danke. Ich glaube, ich hab gerade was mieses rausgefunden, das mich fertig macht. Magst du wissen, was?“

Annika nickt.

„Die Beffaná hat dieses Jahr voll ins Schwarze getroffen, findest du nicht? Bei allen, wirklich allen passt es haargenau. Auch bei dir…:  Keine Ahnung, was genau es bedeutet, aber dieser Zirkel hat dich umgehauen. So wie ein Orkan einen Baum fällt. Stimmt doch, oder? Keine Sorge, ich will nichts weiter darüber hören. Ich will über mich reden. Einverstanden?“

Annika nickt.

„Ich habe eine Brille bekommen. Eine Brille die mir passt. Eine Brille, weißt du, eine Brille ist doch was ganz Normales, oder? Viele in meiner alten Klasse hatten eine Brille, genau wie ich. 

Weißt du, seit wann ich eine Brille brauche? Erst seit ungefähr einem Jahr. Da ist doch nichts dabei, sagt du? Hab ich auch gedacht. Ich fand’s doof, aber ist doch egal. Und als meine Eltern mich vor `nem halben Jahr noch mal zum Optiker geschleppt haben, weil ich stärkere Gläser brauchte? Ist auch normal, oder? Hat der Optiker auch gesagt… 

Bis mir aufgefallen ist, dass jedes, WIRKLICH JEDES BESCHISSENE GESCHENK HEUTE was mit dem doom der Leute zu tun hat. Annika! Was, wenn das bei mir auch so ist? Was, wenn die Brille, wenn das  schlechte Sehen was mit meinem doom zu tun hat? Was ist, wenn ich nicht nur ganz allmählich unsichtbar werde? So wie Betül? Sondern wenn ich auch, so ganz allmählich, blind werde? 

Annika, ich werde blind! Das ist die verdammte Wahrheit! 

Und darum weiß ich auch: Was immer dieser Zirkel für dich bedeutet: Sowas macht einem eine Scheißangst! Und wir werden damit allein gelassen! Denn immer wenn wir Hilfe brauchen, ist gerade Normalzeit oder der Lehrer kriegt seine Komplexe nicht in den Griff!“

Dann setzt sich Sina neben Annika, beginnt zu weinen, und eine ganze zeitlang sitzen die beiden an der Wand. Beide weinen sie still über ihr Unglück und der leere Panikraum um sie herum wird immer leerer und immer größer.

Als die Tür aufgeht, ist mindestens eine Stunde vergangen. Jemand kommt leise herein, schließt die Tür hinter sich und setzt sich vor Sina und Annika. Sina hätte wetten können, dass es Beffaná Grimm ist, doch sie irrt. 

Es ist Ovid. 

„Was willst du?“

„Ich möchte mich entschuldigen. Ich hab mit der ganzen Hexen-Sache angefangen. Das war völlig daneben. Tut mir wirklich leid.“

„Du hast was anderes gemeint. Die anderen haben’s versaut, nicht du. War’s das?“

„Eigentlich wollte ich fragen, ob hier noch ein Platz frei ist. Mir gehts nicht gut.“

„Wird das jetzt ein Klassentreffen?“

„Ich bin auf die Sache mit der Hexe gekommen, weil die Geschenke viel zu gut passen. Viel besser als letztes Jahr, da war ich ja Beffaná. Ich hab mir damals überhaupt nicht viele Gedanken gemacht und Annika weiß: Das war bisher immer so. Die challenge beim Wichteln ist, in die Zimmer der Leute zu kommen, oder ihnen was in die Schuhe zu legen. Darum gehts!  Was es ist, ist echt nicht wichtig.“

„So ganz stimmt das nicht“, murmelt Annika.

„Ja, nein, okay, aber was besseres als Kuchen oder Zettel mit versauten Witzen waren’s dann doch nie. Oder? 

Dieses Jahr ist es anders. Alles passt. Und ich hab den hier bekommen. Und er passt haargenau.“

Ovid holt einen alten Strohhut hervor. Das Ding hat wirklich schon bessere Zeiten gesehen, es ist verblichen und ausgefranst, und Ovid starrt es an wie etwas abgrundtief Böses.

„Was bedeutet das, Ovid?“

„Das bedeutet, dass ich’s jetzt mit Sicherheit weiß. Was ich bin. Was ich werde.“

„Und?“

„Denk einfach an die idiotischte Sache, die du dir vorstellen kannst und du bist nah dran. Ich bin eine Vogelscheuche.“